Tapas – glühendes Streben

4 Jan 2014

Das innere Feuer, sowohl in der Yoga-Übungspraxis als auch im Alltag, begleitet von einer achtsamen Selbstbeobachtung, die geprägt ist von der inneren Haltung der vertrauensvollen Hingabe für die Erfahrung der Gegenwart, offenbart spirituelle Erkenntnis. Tapas bedeutet auch innere Askese, bewusst einmal Dinge tun, die der Geist nicht mag, um innere Stärke zu erlangen. Die höchste Form der Askese ist Geduld. Aber Vorsicht: wenn wir uns im Streben nach Stärke überlegen vorkommen oder meinen, über anderen zu stehen, dann können wir sicher sein, dass gerade etwas schief läuft. Es sind Hingabe und Demut, die uns zur Bescheidenheit zurückbringen.

Der Yoga-Weg ist ein Weg nach innen, in die innere Freiheit. Das Leben in Freiheit bedeutet: aufhören zu wählen. Da nie ein Zwang, weder zum Wählen noch zum Nicht-Wählen, bestehen darf, ist die Freiheit im Sinne des Yoga, dass die Bewegungen des Geistes zur Ruhe kommen, weil wir die Freiheit nutzen, weder zu wählen noch nicht zu wählen. Dadurch wird Raum zwischen Gedankenleere und Gedankenfülle geschaffen. Die Balance in der Gegenwart, die Gegenwart, das Hier und Jetzt, ist eine unendlich winzige Zeiteinheit. In der Gegenwart zu leben bedeutet, von der Vergangenheit und der Zukunft getrennt zu sein. Auf diese Weise kann die Zeit nicht fließen. Savasana kann uns den Schlüssel zum Verständnis dafür liefern: Gelingt es uns, die Gegenwart als immerwährenden Moment zu betrachten und nicht als zusammenhängende oder nebeneinandergestellte Augenblicke, dann befinden wir uns im Hier und Jetzt, in diesem einen Atemzug. Wir sind dann frei von allen Spannungen und brauchen nicht mehr wählen, weil es genau in diesem Augenblick kein Vorher und kein Nachher gibt. Wir sind in unserer wahren Identität gefestigt, die sich zur vollkommenen Freiheit und Schöpfungskraft in einer zeitlosen Dimension entfaltet.

Ist man im Yoga vollkommen absorbiert, so dass vergangene Eindrücke sich nicht einmischen, sondern nur der Augenblick zählt, in dem man durch verbessertes Tun Vollkommenheit und Genauigkeit anstrebt, dann wird Yoga spirituell. Spiritualität ist kein Ziel, das wir äußerlich anstreben, es ist ein Teil in uns, den wir enthüllen müssen, weil Seele und Geist nicht vom Körper getrennt sind. Spiritualität beschreibt die Suche nach Gott und den Sinn des Lebens. Wer aber wiederum Gott begegnen will, muss ganz gegenwärtig sein, sich öffnen und eine Sehnsucht spüren, sich auf den Weg einzulassen. Das kann lebenslanges Üben bedeuten und dass sich die Früchte des Übens vielleicht erst viel später oder auch gar nicht zeigen. Es gibt dann keine Trennung mehr zwischen Asana, Pranayama, Spiritualität, Alltag und Meditation. Und selbst, wenn ich mein Ziel spät oder nie erreiche, was kann den schon passieren, außer dass ich mich wahrscheinlich auf dem Weg dorthin gesundheitlich sehr viel besser fühle.

Yoga auf die richtige Weise und mit der richtigen Einstellung geübt, bringt weit aus größere Veränderungen mit sich, als nur körperliche Gelenkigkeit. Yoga kann von jedem demütig und ohne Erwartungen geübt werden, denn die höchste spirituelle Erfahrung bleibt ein Geschenk.

Für Mr Iyengar sind Asana und Pranayama am Bedeutendsten. Durch diszipliniertes, beständiges, hingebungsvolles Üben und Dabeibleiben werden, die ethischen und spirituellen Grundhaltungen immer mitgeübt, verfeinert, gefördert und die Klesas im Laufe der Zeit überwunden. Asana-Praxis stärkt und heilt Körper und Geist und bereitet sie auf Pranayama vor. Asana und Pranayama helfen, den Geist vom Körper loszulösen.

Die Beobachtung des Atemflusses lehrt uns auch die Stabilität des Bewusstseins und führt zu Konzentration und Meditation. Es gibt keine bessere Methode. Prana erschafft, verteilt und erhält Lebensenergie. Nur wenn der Atem mit der Bewegung synchronisiert ist, können wir unseren Körper im Asana vollkommen dehnen.

Mit Pranayama beginnt das Abziehen der Sinne und es bringt Frieden. Pranayama lehrt uns deshalb Demut und Bescheidenheit, weil es nicht erzwungen werden kann. Wenn dann der Verstand zu schweigen beginnt, sind wir im Pratyahara dem »Rückzug der Sinne«. Pratyahara befreit von Bindungen und Wünschen. Wir werden ruhig, zufrieden und empfangen neues Wissen und Verständnis vom Leben. Dharana ist Konzentration oder vollkommene Aufmerksamkeit, gedankenvoll gedankenlos zu sein, ist gleichzeitig Konzentration und Meditation. Der gedankenvolle Zustand erfordert absichtliche Aufmerksamkeit. Gedankenlos zu bleiben, erfordert ebenfalls absichtliche Aufmerksamkeit. Folglich gibt es eigentlich gar keinen gedankenleeren Zustand. Man wird nicht leer. Man bleibt voll und voll bewusst. Das ist Dharana, das mit der Zeit, in einen Zustand totaler Ruhe mündet, Dhyana.

So müssen Asanas ausgeführt werden, müheloses Verweilen im Asana, ganzheitlich involviert, vollkommen absorbiert, konzentriert, reflektierend, nur der Augenblick zählt, in dem man durch verbessertes Tun Vollkommenheit und Genauigkeit anstrebt, dann wird Yoga spirituell und kann zu Samadhi führen. Letztendlich muss sich das spirituelle Leben im Alltag verwirklichen und bewähren. Jeder Augenblick des Lebens und jede Handlung geschieht in liebender Hingabe an Gott. Gelebte Ethik, Yama und Niyama, sind die Konsequenz und nicht die Voraussetzung für den spirituellen Weg.

Wahrheit ist einfach. Die Komplexität des Verstandes zurück zur Einfachheit zu führen, ist das Ziel des Yoga. Diese Einfachheit kommt mit der Praxis des Pranayama. Pranayama oder Atemtechnik ist das eigentliche Herzstück des Yoga. Prana ist die kosmische Energie oder Lebensenergie. Ayama ist die Weitung, Dehnung, Speicherung und Verteilung dieser Energie. Solange der Atem ruht, ruht Prana und folglich auch der Verstand. Der Atem ist der Spiegel der Seele. Frei fließender Atem löst Spannungen im Asana und bringt die Qualität von Vairagyam [[Loslassen, frei sein von Begierden]] und Prathyahara ins Üben. Das Asana synchronisiert mit Pranayama muss das gesamte Sein des Ausführenden mit Glanz und Schönheit umhüllen. Das ist spirituelle Praxis in physischer Form.

Pranayama lässt sich nicht erzwingen, sondern fordert, dass der Übende bereit ist, zu empfangen. So lehrt uns der Atem Bescheidenheit und Empfänglichkeit und ein aufgeblähtes Ego wird weich und zur Demut geführt. Wo der Geist ist, da ist auch der Atem und wo der Atem ist, da ist auch der Geist. Wenn man den Atem kontrollieren kann, kann man auch den Geist kontrollieren und umgekehrt. Nur mit Hilfe des beruhigenden Atems kann »zur-Ruhe-kommen-des-Geistes« erreicht werden. Wenn der Atem ruht, ruhen auch die Gedanken. Sobald man die Bewegungen des Zwerchfells kontrollieren kann, kehrt im Inneren Stille ein. Wenn die Bewegungen des Bewusstseins zur Ruhe kommen, erkennen wir, dass die Bewegung des Bewusstseins etwas anderes ist als das Bewusstsein selbst. Das Gehirn wird ruhig, leer, empfänglich und der Intellekt verteilt sich gleichmäßig überall. Die Seele kommt zum Vorschein – und das Bewusstsein beobachtet still und wach den Atem.

Wenn der Geist der König der Sinne ist, dann ist der Atem der Meister des Geistes. Aber der Weg dorthin bedeutet unermüdliches, diszipliniertes Üben. Ein Schüler sollte vor allem Liebe, Mäßigung und Demut hoch schätzen. Liebe erzeugt Mut und Mäßigung, schafft Fülle und Demut und gibt Kraft. Mut ohne Liebe ist gewaltsam, Fülle ohne Maßhalten führt zu Selbstverhöhnung und Verfall. Macht ohne Demut bringt Hochmut und Tyrannei hervor.

Das Leben lebt sich selbst – wir sind nur beteiligt daran. Wir sind ein Teil des göttlichen Lebens, wenn wir es ernst nehmen. Ich trage den Leib in mir, in meinem Körper. Leib leitet sich ab von leben, lieben, loben, die einander bedingen. Da wo ich bin, ist Gott, in dem einen Atem, der den versteckten göttlichen Atem in sich trägt. Die Einheit in der Zweiheit. Da spricht das unsagbare Geheimnis: »Komm aus der Dimension der Zeitlichkeit in die Dimension der Ewigkeit« – von der Körperlichkeit auf den Weg der Leiblichkeit. Man braucht sich nur dafür zu öffnen und der Sehnsucht freien Lauf zu lassen. Hingabe, das Absichtslose an sich geschehen lassen. In dem einen Asana ist das aktive Nicht – Tun! Den Leib kann keiner zerstören, er wird von der Ewigkeit getragen. Nicht: Wir haben – sondern: Wir sind! Fällt die Hülle, ist das von ihr umschlossene frei und breitet sich aus, in das Unendliche und in die Ewigkeit – wovor sollen wir dann noch Angst haben?