Raum und Zeit in Shavāsana

1 Mär 2025

Bei Shavāsana geht es nicht ums Einschlafen. Bei Shavāsana geht es um Entspannung. Spannung verhindert die Entspannung, – die Spannung mit der wir am Leben festhalten. Shavāsana setzt Entspannungstechniken ein. Das Ergebnis, in Shavāsana, ist nicht die Freiheit, wie bei der Meditation, sondern der Verlust der Identität. Die Identität verlieren heißt herausfinden, wer wir nicht sind.

Wenn du in Shavāsana ausgewogen und harmonisch auf dem Boden liegst, fühlst du dich präsent und gestaltlos zugleich. Da ist nur noch gegenwärtiges Gewahrsein ohne Bewegung und Zeit. Gegenwärtiges Gewahrsein bedeutet, dass die Zeit im Bewusstsein des Menschen verschwunden ist.

Wenn wir versuchen, uns Zeit ohne Hilfe von räumlichen Begriffen vorzustellen, finden wir das außerordentlich schwierig. Zeit ist keine Dimension des Raumes, die sich in Längenmaßen messen lässt.

Uns scheint, dass die Zeit sich bewegt, fließt und eine Dauer oder Länge hat, somit also räumlich ist. Doch alle spirituellen Wege sprechen von der grundlegenden Wichtigkeit, in der Gegenwart zu leben. Was also ist der gegenwärtige Moment? Von der Logik her kann die Gegenwart nur eine unendlich winzige Zeiteinheit sein, so klein, wie es sowas nicht gibt. Die Gegenwart exisitiert schlichtweg nicht in Form von »Zeitlänge«. Wir müssen die Gegenwart von der Vergangenheit und der Zukunft trennen. Auf diese Weise bleibt die Zeit stehen, sie kann nicht mehr fließen; – wie in der Meditation.

Shavāsana liefert uns den Schlüssel zum Verständnis. Alle unsere Identitäten, unsere Zugehörigkeiten verknüpfen uns mit der Vergangenheit und der Zukunft. Mit der Gegenwart verknüpft uns nur der Zustand des Seins, sonst nichts in unserem Leben. Handeln findet über die Zeit statt; es hat eine Dauer. Sein transzendiert die Zeit.

Shavāsana ist ein Sein ohne ein »Es war«, ohne ein »Es wird sein«. Es ist Sein ohne irgendeinen, der ist. Ist es da verwunderlich, dass Shavāsana das allerschwierigste āsana ist und die Pforte zur nichtdualistischen Meditation und kosmischen Verschmelzung des samādhi.

Wenn Vergangenheit und Zukunft abgeworfen sind, muss das, was übrig bleibt, die Gegnwart sein. Es ist eine Unendlichkeit von gegenwärtigen Momenten, eigenständig und nebeneinandergestellt, aber nicht zusammenhängend oder in einem fortlaufend, wie ein Filmrolle bei der jede einzelne Aufnahme nur ein Bild zeigt. Sie gehen erst ineinander über, wenn man sie in Bewegung anschaut, wodurch der Anschein von Kontinuität erweckt wird.

Der physische Fluss der Zeit bindet uns an vergangene und künftige Identitäten und Ereignisse. Solange wir im Fluss der Zeit als einer Abfolge von Bewegungen gefangen sind, können wir nicht ganz und gar in der Gegenwart sein. Deshalb leben wir in einer Art Kompromissrealität. Die Zeit, die als Bewegung und nicht als Gegenwart angesehen wird, ist eine Illusion, die unsere Freiheit beschränkt. Wir nehmen nur die Abfolge dieser Transformationen im Rahmen der Zeit wahr, weshalb wir in der Illusion gefangen sind, zu werden, statt einfach nur zu sein. Shavāsana befreit uns davon, in dem wir buchstäblich zu nichts werden. Praktizierende, die jegliche Identität ablegen können, haben Zugang zu Orten, zu denen sich kein plumpes Ego durchzwängen kann.

Die Freiheit beginnt mit der Erkenntnis, dass du nicht »der Denker« bist. In dem Augenblick, in dem du den Denker zu beobachten beginnst, wird eine höhere Bewusstseinsebene aktiviert. Du erkennst, dass es einen unendlich großen Intelligenzberich jenseits des Denkens gibt, von dem das Denken nur ein winziger Bruchteil ist.